Karton Bauwerk

Achtung jetzt kommt ein Karton!

Können sie sich noch erinnern, als die das letzte Mal todesmutig in einem Boot die wildesten Flüsse des Urwalds durchquert haben? Oder als sie in einem Flugzeug ganz außergewöhnliche Kunststücke vorgeführt haben? Ihr Boot oder ihr Flugzeug war dabei eine ganz simple große Kartonverpackung (eine Fernsehers z.B., also eines richtigen, mit Bildröhre und ordentlich Gewicht) oder eine Umzugskiste. Schnell wurde für sie als Kind aus einem einfachen Karton etwas ganz Lebendiges, ein „Vehikel“, das sie in eine andere Welt gebracht hat. So entwickeln Kinder ihre Identität weiter, sie probieren aus, wie es ist, ein Forscher oder ein Pilot zu sein, wie es sich anfühlt.

Ich möchte ihnen vorstellen, wie mit einfachen Kartons in Organisationen den Menschen genau das ermöglicht wird: Eine Vorstellung davon zu entwickeln, wer sie eigentlich sind und wer sie sein können. Ein Experiment zu durchlaufen, dass nachhaltig Bewegung in den Menschen und in den Veränderungsprozess einer Organisation bringt und wirksame Bilder generiert.

Veränderungsprozesse in Organisationen bringen oft mit sich, dass Menschen sich von den Veränderungen bedroht fühlen. Sie haben Angst vor der Veränderung und verweigern sich – oft mit Mitteln, die einem vermeintlich „vernünftigen“ Menschen nicht nachvollziehbar erscheinen. Von außen betrachtet scheinen die Fakten klar und die Veränderung unumgänglich zu sein. Aber wenn die eigene Identität betroffen ist, dann ist der nüchterne Blick nicht leicht. Identität meint hier die Antwort des Menschen auf die Frage „Wer bin ich?“ in und aus der Verbindung mit der Organisation, in der er wirkt. In Fusions- und Umstrukturierungsprozessen ist das oft der Fall: Etwas soll wegfallen, Personal, Gebäude und Finanzmittel sollen zusammengelegt werden, die Organisation soll sich für die Zukunft neu aufstellen. Dabei gibt es vielleicht in den verantwortlichen Köpfen ein Bild dieser Zukunftsorganisation, doch bei den Beteiligten sind diese neuen Bilder wenn überhaupt noch sehr oberflächlich angekommen und werden von den alten, bewährten Bildern überlagert.

Wie kann nun der Karton weiterhelfen?

Er kann die Menschen in der Organisation darin unterstützen die inneren Bilder und Vorstellungen über und in ihrer Organisation abzubilden. Die Beteiligten werden aufgefordert ihre Organisation zu bauen – und zwar als Gebäude aus Steinen (Kartons). Den einzelnen Bauteilen können dabei bestimmte Bedeutungen und Fragen zugeordnet werden. So kann zum Beispiel das Fundament die Werte und Grundsätze der Organisation widerspiegeln. Dazu werden die entscheidenden Begriffe auf die Kartons geschrieben – auf jeden nur einen, so wie man es von den Moderationskarten her kennt. Die Aufgabe der Beteiligten ist es, diese Begriffe zu besprechen, was sie ihnen jeweils bedeuten, ob sie unbedingt auf einen der „Steine“ geschrieben werden und wo und wie sie im Gebäude verbaut werden. Grundsätzlich muss die Gruppe sich natürlich entscheiden was und wie sie bauen will. Nach einer vorgegebenen Zeit soll das Gebäude der Gruppe fertig sein.

Genau in diesem Prozess der Externalisierung liegt der klassisch systemische Vorteil dieser Methode: Zum einen haben Menschen immer eine gewisse Freude, oder sagen wir Spaß daran, etwas aus ihrem Inneren auszudrücken. Es in Form von Sprache in einem Stuhlkreis zu tun, führt oft zu Beklemmung und Unsicherheit. Doch „verpackt“ in eine Aufgabe, lässt das den Menschen schnell Zugang finden zu seinen inneren Angelegenheiten. Oft kommt dabei mehr heraus, als er vorher gedacht hat – und er verrät auch mehr von sich, als er es in der Öffentlichkeit getan hätte. Und wenn die Sache mal raus ist – also externalisiert, dann ist sie beobachtbar, auch für den „Besitzer“ selbst. Und eine ganz besondere Kraft hat dieser Prozess des Herausbringens, wenn Menschen ihre gemeinsame Sache, nämlich ihre Organisation – oder genauer gesagt ihre inneren Bilder ihrer Organisation – aus sich herausholen und beobachtbar machen.

Zu sehen sind also mehr oder weniger architektonisch ansprechende Kartongebäude – doch um die ästhetische Komponente geht es ganz und gar nicht. Jedes dieser Gebäude ist bedeutungsgeladen bis zum Anschlag. Warum ist es so geworden und nicht anders? Was bedeutet das für ihre Organisation? Wenn Unbeteiligte ihr Gebäude betrachten – was fällt diesen als erstes auf? Welche Bedeutung hat es für Sie, dass genau diese 5 Steine das Fundament bilden?… Ein genaues Betrachten und befragen des Gebäudes auf seine Aussagekraft über die Organisation und auf seine Wirkung auf die Organisationsmitglieder und Organisationsteile wird auf einmal möglich.

Gerade das systemische Fragen ermöglicht sogar, sorgsam die Gedanken in Bewegung zu bringen, die Sichtweise etwas zu verflüssigen. Was wäre wenn…? Hypothetische Fragen können Gedankenspiele in Gang setzen, die vorher nicht möglich waren, da das innere Bild der Organisation eher in Stein gemeißelt war, denn das es vor einem stand – aus luftigen Kartons gebaut. Was man selbst gemeinschaftlich gebaut hat, könnte man gemeinschaftlich auch umbauen – es ist ja erst einmal nur ein Stapel aus Kartons…

Um tiefer zu verstehen – und auch die Beteiligten tiefer ihre Organisationsidentität verstehen zu lassen – kann es gut sein, sich in detaillierter Kleinschrittigkeit durch die einzelnen Begriffe und ihre Bedeutung für die Organisation zu fragen.

Und wenn in den Köpfen etwas in Bewegung kommt, dann kann es hilfreich sein, auch haptisch und aktiv etwas zu verändern – was mit Kartons ohne weiteres möglich ist.

Zum Abschluss ein paar Beispiele für Fragen rund um die „Bausteine“

Fundamentfragen:

  • Was ist Ihnen als Organisation / Verein / Gemeinschaft wirklich wichtig?
  • Was ist der Kern Ihrer Organisation / Ihres Vereins / Ihrer Gemeinschaft?
  • Was ist Ihr Bezug / Ihre Erdung zum/im Stadtteil?
  • Was würde fehlen, wenn es Ihre Organisation / Ihren Verein / Ihre Gemeinschaft nicht gäbe?
  • Wer wäre nicht vertreten, wenn es Ihre Organisation / Ihren Verein / Ihre Gemeinschaft nicht gäbe?
  • Was würde nicht gesagt werden, wenn es Ihre Organisation / Ihren Verein / Ihre Gemeinschaft nicht gäbe?

Steine-Fragen:

  • Für welche Werte stehen Sie als Organisation / Verein / Gemeinschaft ein?
  • Welche Regeln werden in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft befolgt, als wichtig erachtet?
  • Wo in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft fühlt man sich am wohlsten?
  • Welches sind die Faktoren, die Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft Energie und Kraft geben?
  • Was ist in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft „heilig“?
  • Was denkt man in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft über die Menschen im Stadtteil, über die Stadt, über „die anderen“, über „Fehler machen“… welche grundlegenden Überzeugungen gibt es in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft?
  • Wie geht Ihre Organisation / Ihr Verein / Ihre Gemeinschaft mit internen Veränderungen um?
  • Wie geht Ihre Organisation / Ihr Verein / Ihre Gemeinschaft mit externen Veränderungen um?
  • Wie wird in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft mit Krisen umgegangen?
  • Welche Wunden/Verletzungen/Narben sind Teil Ihrer Identität als Organisation / Verein / Gemeinschaft? (Darstellung in maximal 3 Bausteinen)
  • Ohne bescheiden zu sein: Was ist das Beste an Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft?
  • Welche Menschen erreicht Ihre Organisation / Ihr Verein / Ihre Gemeinschaft?
  • Was ist typisch für Ihre Organisation / Ihren Verein / Ihre Gemeinschaft?

Blick aus dem Fenster (in den Garten):

  • Was ist aus Ihrer Sicht typisch für den Stadtteil? (Darstellung in maximal 5 Bausteinen)
  • Welche Verbindungen gibt es zu anderen Organisationen / Vereinen / Gemeinschaften im Stadtteil?

Fenster:

  • Was sehen die Menschen im Stadtteil in Ihnen als Organisation / Verein / Gemeinschaft?
  • Was sehen die Menschen im Stadtteil nicht auf den ersten Blick?
  • Was sieht man nur, wenn man in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft ist?

Tür:

  • Was könnte man über den Eingang Ihrer Organisation / Ihres Vereins / Ihrer Gemeinschaft schreiben?
  • Wodurch grenzt Ihre Organisation / Ihr Verein / Ihre Gemeinschaft sich ab?
  • Was ist einladend an Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft?
  • Wer ist in Ihrer Organisation / Ihrem Verein / Ihrer Gemeinschaft willkommen?
  • Für wen ist die Tür Ihrer Organisation / Ihres Vereins / Ihrer Gemeinschaft geschlossen?

Dach:

  • Was gibt ihnen Sicherheit?
  • Welche 3 Wünsche haben Sie, um die Zukunftsfähigkeit Ihrer Organisation / Ihres Vereins / Ihrer Gemeinschaft zu stärken?